|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Texts, Publications |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
März 2014 |
Susanne Neubauer
Melencolia, Haus für Kunst Uri
Saaltext
|
|
|
|
|
Juli 2010 |
Kunstbulletin 7-8/2010
Hinweis, Text Irene Müller |
link folgt |
|
|
|
Juni 2010 |
Schweizer Monatshefte
Ausgabe Juni, Nr. 978
Text von Suzann-Viola Renninger |
|
|
|
|
März 2010 |
Ausstellungskatalog
Museumsnacht Bern
Credit Suisse
Texte von Irene Müller
>>>PDF (504 KB)
|
|
|
|
|
November 2009 |
Ausstellungstext Dienstgebäude
Zürich
Text von Natalia Huser
|
|
|
|
|
April 2009 |
Ausstellungskatalog
von I Sotterranei dell Arte, Monte Carasso
Text von Sabine Rusterholz
|
|
|
|
|
Mai 2008 |
Die Letzte
Diplompublikation 2008, Studiengang Bildende Kunst, Zürcher Hochschule
der Künste, Text Burkhard Meltzer und Stefan Wagner
|
|
|
|
|
Okt. 2007 |
Galerie Widmer+Theodoridis, Ausstellungstext
|
|
|
|
|
Febr. 2007 |
Kunstverein Schaffhausen, Galerie, von Irene Müller
|
|
|
|
|
Sept. 2006 |
Landpartie No. 16, Die Kunst der Reduktion
Text Irene Müller
|
|
|
|
|
Juli 2003 |
Publikation `Loch statt Linse`,
Kunsthaus Langenthal
Text Marianne Burki und Markus Schürpf |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Press |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Oktober 2009 |
Kunstbulletin |
|
|
|
|
Jan./Febr. 2009 |
Archithese 1.2009, Swiss Unlimited 41, von Verena Doerfler |
|
|
|
|
16.2.2007 |
Schaffhauser Nachrichten |
|
|
|
|
24.7.2006 |
Tagesanzeiger, von Barbara Basting |
|
|
|
|
27.7.2006 |
NZZ Neue Zürcher Zeitung, von Suzanne Kappeler
|
|
|
|
|
23.7.2006 |
Sonntagszeitung, von Ewa Hess |
|
|
|
|
Sept. 2004 |
DU, Zeitschrift der Kultur |
|
|
|
|
5. 9.2003 |
Neue Mittelland Zeitung |
|
|
|
|
22.9.2003 |
Langenthaler Tagblatt |
|
|
|
|
28.8.2003 |
Züri-Tipp |
|
|
|
|
16.6.2003 |
Fachstelle Kultur Kanton Zürich |
|
8.5.2002 |
Aargauer Zeitung |
|
|
|
|
3.11.2001 |
NZZ Neue Zürcher Zeitung |
|
|
|
|
25.10.2001 |
WOZ Wochenzeitung |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Andreas Marti
Text: Susanne Neubauer
Der Stich der Melencolia I gilt als das rätselhafteste Werk Albrecht Dürers und als „Tummelplatz“ der ikonografisch ausgerichteten Kunstgeschichte (Heinrich Wölfflin). Als freie Arbeit Dürers, der zur Entstehungszeit 1514 im Auftrag Kaiser Maxilians I. stand, führt der Stich auch heute noch vor Augen, was die Komplexität der künstlerischen Praxis ausmacht: Die Verbindung von Intuition, rationaler Entscheidungskraft und Notwendigkeit des Handwerks. Zeitgenössische Kunst basiert auf der Akzeptanz und Gewichtung, aber explizit auch auf der Negierung dieser dialogischen Komponenten. Zusammen verbinden sie sich in jedem einzelnen Werk zu einer unverwechselbaren Einheit und Aussage.
Andreas Martis Praxis beginnt weder mit der Linie noch mit dem Raum, endet jedoch mit diesen. Sein Vorgehen ist (am Anfang) forschend-analytisch, seine Vorstellung (am Ende) bildhaft („dem Bild nahe“). Diese ungewöhnliche Umkehrung des üblichen künstlerischen Prozesses sind im Werk Himmel oder Hölle sehr gut erkennbar. Ein Kinderspiel aus gefaltetem Papier interessiert den Künstler seiner Konstruktion und seiner Möglichkeit zur Manipulation wegen. Im realisierten, um ein Mehrfaches vergrösserten Werk wandelt sich das Objekt in eine raumfüllende, raumaufspannende Skulptur, die weder bewegt und noch weniger verändert werden kann. Sie gibt den Blick rein zur Anschauung frei („ich bin das Werk“). Wie in anderen Arbeiten der Ausstellung nimmt auch A Test of Tests dieses Werkprinzip auf. Marti schafft ein Bild, dem weder ein traditionell malerischer Bildaufbau noch eine Bildkomposition vorangegangen sind. Aus vorgefundenen Bohrlöchern einer Wand sind, so der Anschein, verschiedene Farbpigmente den physikalischen Gesetzen zufolge nach unten gerieselt, haben Streifspuren hinterlassen und sich dann am Boden in Pulverhäufchen gesammelt. Der Künstler, der sich nicht als Maler, sondern als Bildhauer versteht, ist fasziniert von Farbe, die sich in ihrer Körperhaftigkeit zeigt. In der einen Arbeit ist es ihr Rohzustand, das Pigment, in Disappearance as an Option ist es dessen verflüssigte Form, die bildgebend werden. Das im Titel angedeutete Verschwinden der Farbe ist „optional“, da die Farbe im Papierstapel nur vermeintlich „absäuft“. Ihrer fliessend-durchdringendend Eigenschaft zufolge tritt sie an anderer Stelle markant wieder zu Tage. „Ich nehme die rote Farbe nicht wegen ihrer Symbolik,“ sagt Andreas Marti, „mein Bezugsrahmen ist ihre technische Herstellung, sind Bezeichnungen wie 'Kadmiumrot'. Ob eine Farbe synthetisch produziert oder aus natürlichen Grundstoffen gewonnen wurde, interessiert mich nicht.“ Die Haltung, Material ihrer serienproduktiven Eigenschaften wegen zu verwenden, ist eine Errungenschaft der Sechziger Jahre. Trotz Anleihe an die Minimal Art geht Marti nicht so weit, sich komplett den Regeln einer Produktionsästhetik zu unterwerfen, die sich unweigerlich aus dieser Art des künstlerischen Umgangs mit Industriematerialien ergeben. Die Veränderbarkeit des Materials ist ebenso wenig kalkuliert wie ihre Ästhetik mittels Reissbrett entworfen. Organisches erhält in Instead of sitting here proving that I can also be an intellectual I could be out fishing, out painting, out dancing, etc. (Indigo) eine poetische Note, auch wenn der Bezug zur Naturwissenschaft und die bisweilen historisch entlehnten Bezeichnungen („Preussischblau“) Betrachter wie Künstler immer wieder an den Ort der eigentlichen Recherche – gedanklich, perzeptiv – zurückholt. Dass Naturwissenschaft und künstlerische, sozusagen „Sensibilität“ sich nicht ausschliessen, zeigt Andreas Marti in der performativen Skulptur In the proof of the pudding is in the eating II. Eisen verändert durch Erhitzen seine Farbe in regenbogenartiger Weise. Diese an sich handwerkliche Bearbeitung, mit der in der Industrie Metalle verarbeitet und legiert werden, interessiert den Künstler. Aus der Palette der möglichen Farbtöne, die dabei entstehen, will er an der Eröffnung eine Farbe herausbilden – eine Art „ultramarines Marienblau“.
Susanne Neubauer
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Niemand weiss, worum es geht
Der Künstler Andreas Marti
Text: Suzann-Viola Renninger
Schweizerische Monatshefte Nr 978, Juni 2010
|
|
|
|
|
«Anfang der Enzyklopädie», «Erweiterte Enzyklopädie» oder «Indistinct Path» nennt Andreas Marti seine Zeichnungen. Und was ist darauf zu sehen? Schwer zu sagen: mal Kleckse, mal viele Linien, gerade und geschwungene, sich kreuzend und ineinander verschlungen. An einem Ort ein
Wirrwarr, Struktur und Ordnung an anderer Stelle. Die Entwicklung eines Zeichensystems? Eine Erzählung? Vielleicht.
«Ich beschreibe mit meinen Bildern etwas, ohne zu wissen, worum es geht», so Andreas Marti, während er dicke Bündel von Zeichnungen auspackt, über Jahre erarbeitete Studien, offenbar Variationen verschiedener Themen, vielleicht auch nur eines Themas. Welchen Themas? Schwer zu sagen, wenn auch der Künstler es nicht weiss.
Vielleicht hat Andreas Marti mit diesem Satz, den er so nebenbei äussert, etwas Wesentliches über die zeitgenössische Kunst gesagt und ihr eine mögliche Definition gegeben: «Beschreibung von etwas, ohne zu wissen, worum es geht». Und vielleicht wird gerade deswegen vieles der zeitgenössischen Kunst und daher auch Andreas Martis Arbeiten geschätzt, weil wir darin unverständliche Beschreibungen sehen, die uns daran erinnern, dass wir im Grunde auch ausserhalb der Kunst nicht zuverlässig wissen können, worum es eigentlich wirklich geht. Etwa wenn wir glauben,
Wörter und Sätze zu verstehen. Es ist ja schliesslich eine offene Frage, wie es funktionieren kann, dass ein Wort et was – und gerade das – bedeutet. Und möglicherweise ist die Zuversicht, mit der wir uns auf dieses Funktionieren verlassen, nur eine Illusion.
Wie schafft es ein Wort – Laute, die aus unseren Mündern quellen, oder jedes dieser hier auf weisses Papier gedruckten und sich zu Zeilen fügenden schwarzen Gebilde –, etwas zu bedeuten? Woher wissen wir, was mit «Mund», «schwarz»,
«Zeile» oder «Papier» gemeint ist? Schliesslich besteht doch etwa zwischen dem Wort «Mund» und dem Mund in unserem Gesicht nicht einmal jene geringe Ähnlichkeit wie zwischen dem Piktogramm im Zugabteil, das klingelnde Mobiltelefone verbietet, und einem realen Mobiltelefon.
Wörter lassen sich definieren, könnte eine Antwort sein. «Zeile» beispielsweise ist die «horizontale Aneinanderreihung gleichartiger Objekte, etwa die links-rechts gerichteten Einteilungen von Text oder Daten». Doch damit dreht man sich im Kreise, denn auch all die Wörter in dieser Definition lassen sich wiederum nur mit anderen Wörtern definieren. Es fehlen Wörter, die auf direkte, unmittelbare Weise etwas bedeuten. Und dennoch verstehen wir Sätze wie «Vielen Dank für Ihre Zeilen» oder «Ich habe noch keine Zeile gelesen».
Nun liesse sich sagen, dass wir halt die Idee von «Zeile», «Mund» oder «Papier» im Kopf haben und dass es deswegen funktioniere. Doch dann stellen sich zwei weitere schwierige Fragen. Erstens, wie kommen diese Ideen in unseren Kopf und, zweitens, wie schaffen sie es, eine Verbindung herzu- stellen zwischen dem Wort «Papier» und all den verschiedenen konkreten Erscheinungen des weltweit und schon lange Zeit verbreiteten Papiers? Was sorgt einerseits dafür, dass je nach Sprache die Wörter «Papier», «paper», «carta», «papel» oder «palpiri» im Kopf sich mit der immer selben richtigen Idee verbinden, und was wiederum führt dazu, dass wir einen konkreten Schnipsel auf der Strasse oder einen konkreten hohen Stapel in der Druckerei in Bezug zu dieser Idee setzen können? Wie gelingt es, hypothetische Aussagen zu machen in denen «Papier» wiederum etwas Allgemeines meint wie in «Die Preise des Papiers werden steigen»? Steht das generisch verwendete Wort «Papier» in diesem Satz weiterhin in Bezug zu der einen Idee? Nun, eine eindeutige
Antwort auf all diese Fragen weiss man nicht. Weder in der Philosophie noch Psychologie, weder in der Sprach- noch Kognitionswissenschaft.
Wir wissen also nicht, wie es kommt, dass Worte etwas bedeuten. Doch wir haben uns an unsere Unwissenheit gewöhnt und machen uns wohl daher über dieses Mysterium auch weiter keine Sorgen. Solange jedenfalls nicht, bis Andreas Martis Zeichnungen uns daran erinnern. Wie ihm ist es zwar auch uns nicht klar, worum es geht, aber wir ahnen, dass die Zeichen und Geschichten in seinen Bildern sich in einem Reifestadium befinden, das irgendwann in Bedeutung münden kann. Der «Anfang der Enzyklopädie» könnte daher als Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Be- deutungstheorie der Worte verstanden werden.
Auch mit seinen grossen Faltarbeiten oder den am Computer veränderten Wolkenfotografien betreibt An- dreas Marti seine Art Bedeutungsforschung weiter. Überdimensioniert hockt da ein grosses Ding an einem Ort, wo es offensichtlich nicht hingehört. «Grossen Fund» nennt der Künstler es daher schlicht; auch hier weiss er offenbar nicht, was es sein soll. Vielleicht bekommt der Fund seine Bedeutung dann, wenn er am richtigen Ort und im richtigen Kontext abgelegt wird, so wie wir ein unbekanntes
Wort dann verstehen lernen, wenn wir es in bekanntem Zusammenhang antreffen. Die Auflösung von Bedeutung hingegen zeigen in bedrohlichen Farben die Wolkenbilder. «Changed Conditions», nennt Andreas Marti diese Bildserie und zeigt damit, dass hier keine Konstanz erwartet werden darf, etwas, was wohl vorausgesetzt werden müsste, damit Bedeutung möglich wird.
Andreas Marti macht mit seiner Kunst zweierlei klar. Erstens: es ist durchaus Programm, wenn man bei der zeit- genössischen Kunst oft nicht weiss, worum es geht. Und zweitens: auch die Frage, worum es bei einem Wort oder Satz eigentlich gehe und wie beide zu ihrer Bedeutung kommen, ist kritischer, als wir gemeinhin annehmen.
***
Andreas Marti wurde 1967 in Zürich geboren. Er erhielt eine Ausbildung an der Schule für Gestaltung und Kunst Zürich und studierte danach Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste. Sein Atelier liegt im sogenannten «Dienstgebäude», das er zusammen mit einem Kollegen auch als Ausstellungsraum führt.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
DIENSTGEBÄUDE
Zürich
Andreas Marti, Victorine Müller, Cat Tuong Nguyen
Text: Natalia Huser |
|
|
|
|
Andreas Marti (* 1967 in Zürich, lebt und arbeitet
in Zürich)
In minutiöser Feinarbeit erschafft Andreas Marti mit Schablonen und
Graphitpulver einen facettenreichen Bilderkosmos, der in seiner Erscheinungsform
an futuristische Szenarien erinnert. Gleichermassen rufen die verschlungenen
Konstruktionen Assoziationen an mikroskopisch betrachtete Phänomene
hervor. Oft entstehen seine verwunschenen Gebilde in konzeptioneller Herangehensweise.
Mit präziser Beharrlichkeit wiederholt Andreas Marti ein Repertoire
an ähnlichen Formen wie beispielsweise die kugelförmigen Strukturen
in der Arbeit Erweiterte Enzyklopädie (2009). Obwohl jede Zeichnung
dieser Werkgruppe nach einem gleichen Konzept aufgebaut ist, weist die
Beschaffenheit der Motive feine Nuancen auf.
Nebst der meditativen Wirkungskraft der Arbeit, streben die Formen gleichermassen
eine Befragung der Realität an. Wie lassen sich komplexe Ereignisse
künstlerisch darstellen? Kann eine Transformation realer Motive überhaupt
erreicht werden? Die Schwierigkeit diesem hohen Anspruch ästhetisch
gerecht zu werden, zeigt sich in der repetitiven Darstellungsweise, die
gleichzeitig auch Ausdruck für die Vielschichtigkeit an Lösungsvorschlägen
ist. In rund 40 Zeichnungen, die bisher entstanden sind, beschäftigt
sich der Künstler mit philosophischen Fragestellungen über die
menschliche Existenz und ihre Vergänglichkeit und bringt dadurch
ein eigenes Bilderuniversum hervor.
Als exaktes Raster sind die Zeichnungen hinter Glas an die Wand im Dienstgebäude
montiert. Beim Anblick dieser unüberschaubaren Menge und strengen
Anordnung verdichten sich die Gedanken rund um die Möglichkeiten,
eine Enzyklopädie anzulegen und gespeicherte Daten darzustellen.
Die ungebrochene Faszination am Phänomen der Enzyklopädie, am
Interesse, ein visuelles Archiv anzulegen und Erklärungsmodelle für
die Abläufe des Lebens abzugeben, mag sicherlich daran liegen, einen
potentiellen Schlüssel für das Verständnis der Welt zu
liefern. Eine Leiter wie sie in Bibliotheken oder Archiven häufig
gebraucht wird, um das Wissen visuell greifbar zu machen, soll dem Betrachter
in der Ausstellung die Gelegenheit des Nachschauens und Reflektierens
aus unmittelbarer Nähe ermöglichen.
Als Kontrast zur Ernsthaftigkeit der Erweiterten Enzyklopädie und
als visueller Bruch versteht sich die grossformatige Zeichnung, worauf
zufällig hingeworfene Tuscheflecken zu sehen sind. Zarte Linien bahnen
sich auf dem Papier ihren Weg wie zugeschneite Fahrzeugspuren in einer
Winterlandschaft. Die Endpunkte der Linien werden mit feinen Stahlstiften
markiert und sind somit Teil des ästhetischen Konzepts, übernehmen
aber auch funktionale Aufgaben wie die der Hängung.
In der Videoarbeit Einer Ahnung folgen (2005) tastet das Auge der Kamera
behutsam die menschenleeren Räume des Dienstgebäudes ab und
suggeriert in Kombination mit unheimlichen Klängen spannungsvolle
Momente der Ungewissheit. Die Sequenzen der Kamerafahrten werden vom Künstler
ineinander montiert, wodurch ein irritierendes Seherlebnis entsteht. Der
Ort selbst tut wenig zur Sache. Vielmehr ist es das visuelle Verwirrspiel,
das sich aus der Überlagerung der Montage entwickelt und eine topologische
Desorientierung zu erzeugen vermag. Die seltsamen Raumkonstellationen,
die in ihrer Abfolge unweigerlich an die Konstruktion eines Labyrinths
erinnern, werden in einem Loop wiederholt. In dieser unwirklichen von
Orientierungslosigkeit geprägten Situation scheint uns jegliches
reales Zeitempfinden abhanden gekommen zu sein.
Victorine Müller (* 1961 in Grenchen, lebt und arbeitet in Zürich)
Beim Anblick des Erdlings, einer Skulptur aus transparentem Plastik, überlagern
sich unterschiedliche Assoziationen. Ein durchsichtiger menschlicher Körper
ist von einer abstrahierten Tierhülle umgeben und erstrahlt in grünem
und magentafarbenem Licht. Dass es sich um eine lebensspendende Membran
handeln muss, wird durch zwei Pumpen verstärkt. In erster Linie sind
es technische Hilfsmittel, die gebraucht werden, um den Plastikkonstruktionen
das entsprechende Volumen zu verleihen. Sie können jedoch ebenfalls
als Herzmaschinen verstanden werden, die der Kreatur Leben einhauchen.
Leben wird auch mit Hilfe des Lichts suggeriert. Die präzise Inszenierung
der Beleuchtung und der Farben (in Zusammenarbeit mit Simon Egli) erzeugt
auf der transparenten Oberfläche ein betörendes Lichterspiel.
Dabei erstrahlt die Membran von aussen und lässt den Körper
lebendig wirken. Die gesamte Lichtkomposition – ein ästhetisches
Mittel, das charakteristisch für die Installationen von Victorine
Müller ist – gepaart mit der fragilen Transparenz des Materials,
vermag den Betrachter in eine traumwandlerische Welt zu entführen.
Man könnte behaupten, dass sich das Wesen jeglicher Definition von
Raum und Zeit entzieht. In diesem philosophischen Gedankenstrudel wird
man sich seiner eigenen begrenzten Lebensdauer bewusst.
Erweitert wird die skulpturale Installation mit Bildern, worauf hybride
Kreaturen zu sehen sind, die in zartrosa Pastelltönen vor einem weissen
Hintergrund auftauchen und ähnlich wie der Erdling, nicht von dieser
Welt zu sein scheinen.
Charakteristisch für die Tierwesen ist ihr menschenähnlicher
Ausdruck. Sie erzählen, einem emotionalen Vokabular gleich, von einer
inneren Welt.
Mit der frischen Interpretation der Vereinigung von Mensch und Tier reflektiert
Victorine Müller zwar ein wiederkehrendes Sujet der Kunstgeschichte,
schafft auf inhaltlicher Ebene jedoch Resonanzräume für emotionale
Befindlichkeiten.
Cat Tuong Nguyen (* 1969 in Vietnam, lebt und arbeitet in Zürich)
Ein Repertoire an motivischer Vielfalt offenbart sich in der neuesten
Werkgruppe von Cat Tuong Nguyen. Es sind hauptsächlich experimentelle
Fotografien, die in erster Linie keine Geschichten erzählen, sondern
sie sind Sinnbild für den Prozess des Suchens nach Erkenntnis; ein
sicherlich hoher künstlerischer Anspruch, dessen Realisierung grundsätzlich
eine schwierige, wenn nicht gar zum Scheitern verurteilte Herausforderung
ist. Dennoch entspringen das Suchen nach Antworten sowie das Reflektieren
darüber einem instinktiven Bedürfnis, einem inneren Drang und
scheinen für jeden von uns, Antrieb oder gar Lebenselixier zu sein.
Beim permanenten Ausloten der Bildinhalte spürt man Cat Tuong Nguyens
lustvollen Umgang mit Motiven. So zeigen sich auf den Fotografien Sujets
wie Hasen, Eulen, Menschen, und auch der Künstler selbst taucht immer
wieder auf wie er sich in ungewöhnlichen Situationen darstellt. Diese
Themen kombiniert er in einer frischen Art zu einer Collage und schafft
damit eine spannungsreiche Gegenüberstellung. Trotz des ernsthaften
Grundtenors weisen die Fotografien stets eine ironische Seite auf wie
zum Beispiel dort, wo Cat Tuong Nguyens Kopf von einem Buch bedeckt wird,
und er neben sich eine Lampe liegen hat. Hat der Drang nach Erkenntnis
und die geballte Kraft des Wissens den Künstler regelrecht „erschlagen“,
oder sehen wir hier ein Bild der friedvollen Erleuchtung? Es sind solche
Inszenierungen, die des Künstlers feines Gespür für Humor
und Situationskomik ausdrücken, gleichzeitig auch die Offenheit seiner
Bildinterpretationen betonen.
Nebst gegenständlichen Motiven erscheinen in der friesartigen Präsentation
immer wieder Fotografien, die in der Dunkelkammer mit Chemikalien bearbeitet
wurden und dadurch in der Art ihrer Ausführung und Beschaffenheit
gleichermassen an abstrakte Malerei erinnern. Der prozesshafte und selbstreferentielle
Charakter der Arbeiten spielt in dieser Serie eine zentrale Rolle. So
zeichnen sich die Bilder – wie Cat Tuong Nguyen die Fotografien
nennt und damit ihre Nähe zur Malerei bestärkt – durch
offensichtliches Zurschaustellen technischer Aspekte wie Über- und
Mehrfachbelichtung aus. Die „Fehlerhaftigkeit“ gehört
zum ästhetischen Prinzip der einzelnen Arbeiten. Nicht die Perfektion
im herkömmlichen Sinne interessiert den Künstler, sondern Situationen,
die „unvollendet“ und irritierend wirken.
In einer Aktion, die am Vortag der Ausstellungseröffnung ihren Anfang
nimmt und bis zum Ende der Vernissage dauert, möchte Cat Tuong Nguyen
den Prozess der Bildfindung und -produktion lebhaft darstellen. Von freiwilligen
Besuchern sollen laufend Porträts entstehen, die im Dienstgebäude
aufgenommen, vor Ort entwickelt und anschliessend aufgehängt werden.
Die Mitarbeit oder Hilfe des Besuchers ist wichtiger Bestandteil dieser
Arbeit, ist für das Entstehen der Aufnahmen unabdingbar. Durch die
Beteiligung des Einzelnen wird eine Basis für gegenseitiges Vertrauen
geschaffen. Diese Geste erfährt in Zeiten übertriebener Selbstbezogenheit
eine wertvolle Bedeutung. Damit erwirkt der Künstler eine spannungsgeladene
Interaktion mit seinem Publikum.
Text: Natalia Huser |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Seltsame Attraktoren
Präzise Annäherungen an die chaotische Wirklichkeit
Text: Sabine Rusterholz |
|
|
|
|
Die Faszination der Wissenschaft bietet Andreas Marti ein optimales Experimentierfeld
für seine künstlerische Arbeit. Die Zeichnung ist dabei ein
besonders präzise gewähltes Mittel. Sie ist das Medium des Entwurfs,
der als Repräsentation für komplexe Systeme modellhafte Vereinfachungen
zulässt. Martis Zeichnungen wirken dabei wie objektive und auf das
Wesentliche reduzierte Darstellungen komplexer physikalischer oder natürlicher
Phänomene. Ohne besondere Hinweise auf eine persönliche Handschrift
verwendet er für einige Arbeiten unter anderem Schablonen. Andere
Arbeiten sind zwar als Freihandzeichnungen entstanden, sie sind jedoch
ebenso vom rationalen Duktus der wissenschaftlichen Zeichnung geprägt.
Die vermeintliche Rationalität und Repräsentation, welche damit
suggeriert werden, weisen allerdings immer auf die Unschärfen und
Irregularitäten der dargestellten Systeme hin. Ambivalenzen zwischen
Präzision und Zufall, Ordnung und Unordnung, klarer geometrischer
und chaotischer Struktur machen die verführerische Attraktivität
von Andreas Martis Arbeiten aus.
Die Wandzeichnung Supercell (2008), die in der Ausstellung in mehreren
Versionen gezeigt wurde, zeigt komplexe Strukturen von dreidimensional
angeordneten, aneinander wuchernden Kugeln. In die spezifischen Eigenschaften
des Raumes eingepasst, verändert sich ihre Form bei jeder Präsentation.
Architektonische und feinstrukturelle Eigenschaften der Wand beeinflussen
die endgültige Form. Noch im Entstehungsprozess wächst die Zelle
zu ihrer endgültigen Ausdehnung und Anpassung an die vorhandene Wand.
Kreis- und Segmentschablonen aneinanderfügend, entwirft Marti, gleichzeitig
der externen Logik sowie seiner eigenen konzeptuellen Idee folgend, die
Zelle direkt vor Ort. Die Arbeit operiert unverkennbar mit der Sprache
wissenschaftlicher Modelle. Die Wolkenform ist abstrahiert dargestellt
mittels geometrischer Kreis- und Kugelformen. Ein vertikaler Schnitt durch
das System legt den Blick frei ins Innere der Zelle, wo sichtbar wird,
dass es sich um einen soliden Körper mit verschiedenen Zentren, quasi
Zellkernen handelt.
Wissenschaftliche Zeichnungen und Diagramme sind Darstellungen komplexer
Systeme, die mittels modellhafter Vereinfachung dargestellt werden. Es
sind idealisierte Denkmodelle für reale Phänomene, anhand derer
ihre Gesetzmässigkeiten aufgezeigt werden. Vielen Vorgängen
in der Natur liegen allerdings nicht darstellbare Prozesse zugrunde. Die
Disziplinen Meteorologie, Biologie und Medizin etwa beschäftigen
sich mit Phänomenen, die keinen konstanten Gesetzmässigkeiten
folgen bzw. deren Zusammenhänge zu komplex sind, als dass sie sich
restlos konsistent erklären liessen. Mit dem Titel Supercell nimmt
Marti direkten Bezug zur Meteorologie, in der eine grosse Gewitterzelle
als Superzelle bezeichnet wird. Solche nicht-lineare und oft auch chaotische
Prozesse sind weder vorhersagbar noch einfach darstellbar. Die Zuverlässigkeit
einer Wettervorhersage bleibt immer begrenzt. Ebenso zeigt das Wachstum
eines Tumors oder einer epidemischen Verbreitung eines Krankheitserregers
typische Merkmale des chaotischen Verhaltens. Für das Verständnis
solcher Prozesse werden Simulationen benötigt, die die Phänomene
in komplexen Modellen darstellen. Die Chaosforschung hält zahlreiche
solcher Modellsimulationen bereit, deren Gesetzmässigkeiten sich
ausgehend von den Anfangswerten jeweils unterschiedlich entwickeln. Ein
wesentliches Ergebnis ist allerdings die Entdeckung, dass chaotische Systeme
trotz ihres langfristig nicht vorhersagbaren, scheinbar irregulären
Verhaltens bestimmte universelle Verhaltensmuster aufweisen. Der „Seltsame
Attraktor“ ist eines dieser typischen Prinzipien. Er beschreibt
die Tendenz von chaotischen, nicht-linearen Phänomenen, bei der Aufzeichnung
ihrer Begebenheiten auf vergleichbare Bereiche hinzusteuern. Eine grafische
Darstellung für bestimmte Verhaltensweisen ist oft nur durch die
fraktale Geometrie möglich. Sie bleibt jedoch immer eine Annäherung
an die Realität, ein wissenschaftliches Modell, das die Komplexität
der Realität nicht zu fassen vermag. Genau auf diese Feststellung
der lediglichen Annäherung des Modells an die Wirklichkeit und unmöglichen
Erfassung und Darstellung derselben zielen die Arbeiten von Andreas Marti.
Die Chaosforschung ist ein wissenschaftlicher Versuch der Erklärung
von irrationalen Prozessen, quasi die Durchdringung des Unbekannten durch
den rationalen Geist. Diese Widersprüchlichkeit taucht in den Arbeiten
von Andreas Marti immer wieder auf.
Solche Annäherungen an die Realität durch Denkmodelle beschäftigen
Andreas Marti demnach auch in anderen Arbeiten. In der fotografischen
Serie Changed Conditions (2007) stehen wiederum die Wolke und ihre Konditionen
im Mittelpunkt. Hier allerdings ist ihre Darstellung in der Fotografie
zentral. Die Momentaufnahme des flüchtigen Prozesses der Wolkenbildung
ist an sich schon ein Unternehmen, das immer nur eine Annäherung
ans reale Phänomen sein kann. Mit einem minimalen Eingriff der Farbumkehrung
im Bildbearbeitungsprogramm führt Marti die Aussage des Bildes zu
einer maximalen Veränderung. Ein Wetterphänomen wird plötzlich
zu einer Explosion und somit zu einer potentiell politischen Aussage.
Einerseits wird es mit einem einfach Click zu einem medienkritischen Kommentar
zur Manipulierbarkeit und unkritischen Rezeption von Bildern. Auf der
naturwissenschaftlichen Ebene kommt wiederum die Vorstellung einer potentiell
grossen Veränderung bei minimal veränderten Bedingungen in einem
System ins Spiel. Vergleichbar mit dem Schmetterlingseffekt, der ein anderes
Erklärungsprinzip für nicht vorhersehbare, vom Zufall geleitete,
dynamische Entwicklungen in der Natur ist, wurden mit dem Mausclick die
Wetterbedingungen im Bild manipuliert. Ein Flügelschlag eines Schmetterlings
in Brasilien kann nach dem Modell des Schmetterlingseffekts theoretisch
einen Tornado in Texas auslösen. Die Erforschung solcher Phänomene,
die sich in Abhängigkeit ihrer Anfangsbedingungen entwickeln, ist
wiederum ein Gegenstand der Chaosforschung und nur in modellhafter Annäherung
möglich.
Auch Kritzeleien, wie sie in der Wandzeichnung Little Big Thing (2008)
dargestellt ist, sind unvorhersehbare, chaotische Bewegungen. Im Kleinen
auf einem Blatt Papier von Hand aus der Intensität des Momentes heraus
entstanden, ist sie in der Vergrösserung auf der Wand unmöglich
mit derselben emotionalen Intensität zu vollführen. Die Linie
kann nicht in einem Zug gezogen werden. Den Armen des Künstlers fehlt
die Spannweite dafür. Der Vergrösserungsprozess erfordert eine
Abstraktion, die Marti mit Unterbrechungen der Linie deutlich macht. Der
Authentizität der Handzeichnung steht die Standardisierung der Vergrösserung
entgegen. Die Präsentation auf der Wand bedarf einer Schablone, um
die optimale Kritzelfigur zu treffen. Der Intensität des Momentes
in der kleinen Handzeichnung stellt Marti die kontrollierte Abstraktion
entgegen und findet damit ein Bild einer typisierten Kritzelei. Auch hier
sind freie unkontrollierte Entstehung eines Prozesses und seine rationale
Durchdringung die Antagonismen, mit denen sich Marti beschäftigt.
Präzision und Geometrie sowie Zufall und Unvorhersagbarkeit spielen
auch bei der Skulptur Himmel oder Hölle (2008) eine Rolle. Andreas
Marti hat das Kinderfaltspiel in Übergrösse gefaltet. Diese
Arbeit verlangt dem verwendeten Papierbogen von 7,6 x 7,6 Metern sehr
viel ab. Bei der Herstellung werden die Ecken des quadratischen Papiers
wiederholt eingefaltet und es entsteht durch Auffaltung eine dreidimensionale
Figur im Raum. Ihr liegt eine geometrische Rasterstruktur zugrunde, die
aus der Faltung Quadrate und Dreiecke ergibt. Das riesige Papier ist nicht
wie das kleine Kinderspiel flexibel faltbar und beweglich, sondern eher
steif und sperrig. Das fragile Ungetüm wurde dennoch ins enge Kellergewölbe
des Ausstellungsraums eingepasst. Jedes Kind kennt dieses Spiel, das im
Englischen auch Fortune Teller genannt wird. Aus einer Kombination von
Zahlen- und Farbenwahl auf den Oberflächen der Faltung ergeben sich
jeweils Wünsche für die Zukunft oder Antworten auf deren drängende
Fragen. Mit der Arbeit spielt Marti wiederum auf Fragen von Zufall und
Vorhersagbarkeit an. Rationalität und Irrationalität bilden
auch hier eine Polarität. Wie ein Orakel täuscht das Spiel eine
vermeintliche Sicherheit von zukünftigen Entwicklungen vor.
Im engen Gewölbe des Klosterkellers in Monte Carasso eröffnet
die Skulptur zudem eine weitere Dimension. War es doch im dunklen Mittelalter
die Religion, die den Menschen eine vermeintliche Sicherheit vermittelte.
Wenn auch Orakelsprüche in der christlichen Religion nichts zu suchen
hatten und sogar verfolgt wurden, war der Antagonismus zwischen Himmel
und Hölle dennoch wesentlich. Die Fehlbarkeit des Richtens über
Gut und Böse ist mit dieser Arbeit ebenso angesprochen, wie seine
Zufälligkeit.
Eine verwandte Rasterstruktur wie die geometrische Struktur der Faltung
bei Himmel oder Hölle liegt auch zwei Plan-Zeichnungen (Plan V; Plan
VI, 2007) zugrunde. Sie zeigen kristalline Landschaften, die aus kubischen
Formen herausgearbeitet wurden. Mit der Hilfs-Konstruktion der polygonalen
Aufrasterung wird ein natürliches Terrain suggeriert. Polygonale
Geometrien werden etwa in Computergames zur Konstruktion von Fantasylandschaften
verwendet. Auch diese Darstellungsform ist immer nur eine Annäherung
an eine natürliche Landschaft. Die konstruierten Landschaften erinnern
indes auch an konstruierte fiktive Topologien, deren Logik und Räumlichkeit
nicht immer nachvollziehbar ist. Das logische System der Geometrie ist
auch hier nur ein Konstrukt, das eine fragile, ambivalente und nur partiell
erklärbar geformte Welt zu beschreiben versucht. Die vermeintliche
Sicherheit des Terrains erscheint auch hier nur oberflächlich.
Die Collectors Items (2008) nehmen dagegen die natürliche Form des
Steins als Ausgangspunkt. Der Unikatscharakter der natürlichen Steinform
wird allerdings sogleich unterlaufen. Die Sammlung zeigt nicht wie auf
den ersten Blick angenommen 18 unterschiedliche Einzelstücke, sondern
die Vervielfältigung einer Gipsform zu einer Vielzahl von identischen
Objekten. Auch hier steht wiederum eine Systematisierung zur Diskussion:
Die Sammlung, Aufbewahrung und Kategorisierung von gefundenen Unikaten
und die Kategorisierung von Natur in einem abstrakten wissenschaftlichen
System. Die „Sammlerstücke“ deuten aber auch eine subjektive
Obsession eines Sammlers an, der nicht nach rationalen Kriterien, sondern
denjenigen des eigenen Geschmacks sammelt. So stehen sich in dieser Arbeit
wiederum Objektivität und Subjektivität als Antagonismen gegenüber.
Von einem verwandten System der Sammlung und Kategorisierung, der Enzyklopädie,
geht Marti in der Arbeit Anfang der Enzyklopädie (2008) aus. Die
kleinformatigen Schablonenzeichnungen auf der Wand zeigen Überlagerungen
verschiedener Bilder, die er im World Wide Web findet, in Überlagerungen
zu Formschablonen zusammenfügt und als schattenhafte Einzelformen
in ein vielteiliges Rastersystem einordnet. In den seltsamen Formen lassen
sich Elemente von Bildern erahnen, etwa menschliche Körperumrisse,
Stadtsilhouetten und dergleichen, die sich quasi zu eigenständigen
Einzellern oder gar Fragmenten von Kontinenten auf einer Landkarte verbinden,
jedoch nie tatsächlich identifizierbar sind. Marti eignet sich die
Bilder der täglichen Bilderflut an und ordnet sie in ein eigenes
System ein. In der Überlagerung werden sie unkenntlich gemacht und
nach eigener Logik in ein System eingeführt, das eine systematische
Erfassung suggeriert. Vergleichbar mit dem Prinzip des seltsamen Attraktors
entstehen aus der Vielzahl von Umrissformen in der Überlagerung neue
abstrakte Formen, die zu einer universalen Form zu tendieren scheinen.
Marti erfindet sozusagen ein System, das das Chaos der Bilderflut zu fassen
vermag. Das offene Ende der Präsentationsform im Raster auf der Wand
deutet an, dass die Sammlung theoretisch erweiterbar wäre. Eine Enzyklopädie
weist typischerweise auf die Darstellung der Totalität eines Wissensbereichs
hin. In der Aneignung des Bildmaterials zeigt sich bei Marti allerdings
eine subjektive Verarbeitung, die eher einer irrationalen Logik folgt
und so auch einen Kommentar zu rationalen Klassifizierungssystemen liefert.
Das Internet als gigantischer Speicher allen Wissens und unendlicher Bilderkosmos
ist gleichzeitig ein neues System der Wissensproduktion und -distribution
sowie ein endloses Netz an Bezügen und chaotischer Ort des drohenden
Orientierungsverlustes. Rationalität und Irrationalität sind
auch hier wiederum das Gegensatzpaar, mit dem Marti arbeitet.
Das Problem der Annäherung an die Wirklichkeit ist nicht nur eines
der Wissenschaft, sondern auch eines der Kunst. Die Darstellung der Realität
mit künstlerischen Mitteln war immer schon das Hauptziel der Kunst.
Marti seziert die Wirklichkeit mit präzisen Mitteln, lässt sich
gleichzeitig aber auch vom Zufall leiten und durchleuchtet die Widersprüchlichkeit
des Unterfangens auf beiden Ebenen, der Kunst und der Wissenschaft. Präzision
und Intuition, Faktum und Imagination, Rationalität und Irrationalität,
stehen immer als Polaritäten gegenüber. Martis Arbeiten werden
damit selbst zu einem „Seltsamen Attraktor“.
Sabine Rusterholz 2009 |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Die Letzte
Diplompublikation 2008, Studiengang Bildende Kunst, Zürcher Hochschule
der Künste
Text Burkhard Meltzer und Stefan Wagner |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Gerade von einem Aufenthalt in Genua
zurückgekehrt, treffen wir Andreas Marti beim Wiedereinrichten seines
Arbeitsraumes in Zürich. Die Wände sind noch leer, nur wenige
Dinge bieten dem Auge einen Anlass zur Betrachtung. Das ist nicht weiter
verwunderlich – Martis Installationen oder Wandzeichnungen begegnet
man eher im urbanen Umfeld oder an Kunsthauswänden als im Atelier.
Burkhard Meltzer: Könnte ein Architekt verzweifeln, wenn er sich
deine Zeichnungen anschaut?
Andreas Marti: Das könnte ich mir vorstellen. Es sind Pläne,
die nicht aufgehen, die einen Regelbruch begehen. Auf den ersten Blick
handelt es sich scheinbar um Konstruktionszeichnungen: durchgezogene Linien
stellen sichtbare Kanten dar, während unterbrochene Striche unsichtbare
Kanten andeuten. Jedoch funktionieren die Konstruktionen auf den zweiten
Blick nicht mehr. Vordere Ebenen werden plötzlich zum Hintergrund
und umgekehrt.
BM: Das Verhältnis zwischen Architektur, deiner eigenen künstlerischen
Arbeit und dem Betrachter scheint auch in anderen Arbeiten ein wichtiges
Thema zu sein. So wurden für die Arbeit „Between A Close Distance
And A Far Proximity“ (2007) transparente Ballons in den engen Gassen
von Genua installiert. Die luftgefüllten Kunststoffkörper thematisieren
auch die Frage nach dem Sozialabstand, wenn man in unmittelbarer Nähe
miteinander wohnt.
AM: Wenn ich etwas in einem Raum zeige, versuche ich auch, mit diesem
Ort zu arbeiten. Ich würde dort weniger meine Papierarbeiten wie
etwa die zu Beginn erwähnten Konstruktionszeichnungen zeigen. Für
die Arbeit in Genua spielt die Umgebung natürlich eine besonders
wichtige Rolle – insofern ist das vielleicht auch jene Arbeit, die
am konsequentesten in Richtung Ortspezifik geht Es gibt aber noch eine
ganz andere Gruppe von Arbeiten – hauptsächlich Zeichnungen
–, die mit der Sprache wissenschaftlicher Modelle operieren. So
nimmt beispielsweise „Supercell“ (grossformatige Wandzeichnung
mit Graphitstift, 2006) eine Wolkenform an. Grosse Gewitterzellen werden
in der Metereologie als Supercell bezeichnet. Mich hat dabei beschäftigt,
wie wir mit so grossen Kräften und Elementen der Natur umgehen können,
wie sie sich darstellen lassen.
BM: Im Kunstverein Schaffhausen hast du 2007 einen Wasserschaden simuliert
(„Leck“). Bei näherer Betrachtung handelte es sich jedoch
um eine Pfütze aus PVC-Folie. Inwiefern rufst du mit deiner Arbeit
räumliche Illusionen hervor?
AM: In einer älteren Arbeit nimmt die Illusion eines Raums für
den Betrachter schon deutliche Züge an. Auf den ersten Blick würde
man das Bild sofort als „Satellitenfoto des Weltraums“ bezeichnen.
Es handelt sich dabei aber um ein ziemlich einfaches Fotogramm –
Glasperlen wurden direkt auf Fotopapier gelegt und belichtet. Dadurch
entstehen farbige Lichtbrechungen. Durch die verschobenen Grössenverhältnisse
blickt man nun vermeintlich ins ferne Weltall und sieht unzähligen,
farbigen Sternen entgegen. Die Täuschung ist für mich auch im
Hinblick auf die technische Umsetzung interessant. Dieses Prinzip setze
ich auch bei der Herstellung anderer Arbeiten ein. So benutze ich für
meine Wandzeichnungen industriell gefertigtes Schablonenmaterial - wie
z.B. Transparentfolie- das ich dann je nach Arbeit individuell zuschneide.
Auch die anfangs erwähnten Architekturzeichnungen spielen mit einer
Täuschungsabsicht: Man erwartet gerade dort einen sehr detaillierten
Plan, der die Umrisse eines Gebäudes abbilden soll. Meine Arbeiten
sehen zwar ähnlich aus, es sind aber alles Freihandzeichnungen ohne
einen bestimmten Abbildungsmassstab. Je näher man meinen vermeintlich
„genauen Plänen“ kommt, desto irritierender entwickelt
sich die Ansicht des gesamten Bildes.
Burkhard Meltzer
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Ausstellungstext
Galerie Widmer+Theodoridis, Zürich |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Piaggio
Im Projektraum "Ehegraben" freut sich Widmer+Theodoridis contemporary
den Zürcher Künstler Andreas Marti zu präsentieren. Gezeigt
wird die speziell für den Ehegraben konzipierte Audioinstallation
"Piaggio".
Andreas Marti arbeitet seit diesem Frühling in Genua. Seine Arbeiten
wurden mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Atelierstipendium Genua
der Stadt Zürich, oder nominiert für die Auswahl 06 des Kunsthauses
Aarau und dem Kunstkredit 2006 des Aargauer Kuratoriums.
Marti's Audioinstallation "Piaggio" ist während seines
Aufenthalts dieses Jahr in Genua entstanden und greift die Situation in
den engen Gassen der Stadt auf. Die städtebauliche Ähnlichkeit
mit Zürichs Altstadt erlaubt Marti in ungezwungener Weise seine Eindrücke
Genuas im Ehegraben adäquat umzusetzen.
Beim Betreten des Ehegrabens verlässt der Besucher die Hauptgasse
und tritt in eine Ruhe und Abgeschiedenheit ein. Die plötzliche Konfrontation
mit einem lauten Geräusch verstärkt die Isolation und die Enge
im Ehegraben und evoziert eine Irritation. In den engen Gassen Genuas
ist der 3-Rad-Piaggio eines der wenigen Motorfahrzeuge, das überall
durchkommt. Sein Ton kündigt das Nahen an bevor man ihn noch sieht
- jeden Moment kann der Piaggio um die Ecke kurven. Und obwohl im Ehegraben,
der für den Piaggio viel zu eng und zu klein ist, eine Durchfahrt
unmöglich ist, irritiert und warnt der Ton den Betrachter. Die akustische
Präsenz dekonstruiert die Enge im Ehegraben und öffnet einen
Raum den es so nicht gibt.
In Genua wurden die Gassen im Laufe der Zeit immer wieder um- und zugebaut
um dann später wieder geöffnet zu werden. Hohlräume befinden
sich nicht selten zwischen den Hausteilen und werden vielfach erst bei
einer späteren Renovation wieder geöffnet. Diese Präsenz
von Räumen, sichtbaren und nicht sichtbaren, von Grenzen und Absenzen,
erzielt eine Spannung, die Marti auch in seinen Zeichnungen bewusst aufbaut.
Dabei geht es nicht um die Täuschung des Betrachters, sondern vielmehr
um die Auseinandersetzung mit unserer Wahrnehmung. Was sehen wir? Was
hören wir? In ihrer konstruktiven Klarheit und formalen Einfachheit
strahlen Martis Zeichnungen und Installationen eine eigentümliche
Selbstverständlichkeit und emotionale Vertrautheit aus.
Andreas Marti lebt und arbeitet in Zürich. Er hat seine Ausbildung
an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich abgeschlossen.Für
die Ausstellung im Ehegraben präsentiert Marti nebst der Installation
"Piaggio" zwei weitere Arbeiten: Eine Zeichnung mit dem Reifenabdruck
des Piaggios, als Multiple, und eine Fotografie (C-Print) mit dem herannahenden
Piaggio. Diese Arbeiten und weitere Werke sind in der Galerie erhältlich.
Jordan Theodoridis
Werner Widmer |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Kunstverein Schaffhausen,
Ausstellungstext Irene Müller |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Zeichnungen, Fotogramm und BodenarbeitIm
Laufe des letzen Jahres hat Andreas Marti (* 1967 in Zürich) mehrere
grossformatige Zeichnungen entwickelt, die entweder direkt auf die Wand
(left over, landpartie, Zürich; left over, Aargauer Kunsthaus, Aarau)
oder auf grossen Papierbahnen gezeichnet sind (Zone, Kunstverein Schaffhausen,
Galerie Repfergasse 26, Schaffhausen). Es handelt sich dabei um Schablonenzeichnungen,
die mit Kugelschreiber ausgeführt werden. Kantige Strukturen, perspektivisch
gebrochene und ineinander verschachtelte Elemente entfalten sich in fein
abgestuften Schattierungen auf dem Weiss des Untergrundes. Eine zweite
‹Bildebene› bricht diese Formen auf, ein strenger, geometrischer
Raster schiebt sich dazwischen, wobei sich dessen Position im Bildraum
immer wieder ändert: An manchen Stellen hinterfängt dieses Netz
aus Quadraten die Anordnung, in anderen Bereichen überzieht es wie
eine feine Matrix die vielseitigen Formen. In dem Spannungsfeld von eher
ungeordneten, freien Strukturen und reglementierendem ‹Ordnungssystem›
entwickelt sich die Räumlichkeit der Zeichnungen. Vereinzelte Setzungen,
aber auch kompakte Partien markieren ein dreidimensionales Gefüge,
das die ‹Leerstellen›, die ‹unbezeichneten› Bereiche
einschliesst, aus ihnen herauswächst und sie mitformt.
Andreas Marti nimmt in diesen Zeichnungen jegliche Spuren einer persönlichen
Handschrift zurück. Gerade diese Art des Zeichnens, die differenzierten
Kreuz- und Parallelschraffuren, die feinen Helldunkel-Töne der Strukturen
und quadratischen Flächen heben den räumlichen Aspekt der Zeichnungen,
ihren tektonischen Aufbau und die körperhaften Ausprägungen
der Strukturen und Formen hervor. Was wie minutiöse und präzise
Zeichenarbeit aussieht, ist viel mehr eine rasche, rhythmische Bewegung
mit dem Zeichenstift, die über die Grenzen der Schablonen hinausgeht.
Die Spur des Stifts auf dem Untergrund wird hingegen von der Form der
Schablone limitiert. So sind es die vorher definierten Umrissformen und
Liniensegmente, die in verschiedenen Positionen, Drehungen und Überlagerungen
auf dem Bildgrund die Grundorganisation der Zeichnung vorgeben; es sind
die unterschiedlichen Texturen dieser ‹Binnenformen›, die
einen Bildraum entwerfen, die der Bildanlage Räumlichkeit und dreidimensionale
Ausprägung verleihen. Die beiden Wandzeichnungen operieren direkt
mit den örtlichen Gegebenheiten, setzen an bestimmten Stellen der
Wand an, thematisieren - wie im Titel angedeutet – das Übriggebliebene
und bewegen sich im Spannungsfeld von besetztem, bezeichnetem Areal und
nackter Fläche. Bei der neuesten Zeichnung, Zone, zeigt sich eine
etwas andere Raumorganisation: Es ist viel mehr ein Ausschnitt, ein durch
die Papiergrösse definierter, herausgelöster respektive fokussierter
Bereich eines grösseren räumlichen Gefüges. Das Papier
stellt hier die physische Begrenzung einer letztlich ins Unendliche vergrösserbaren
Struktur dar, es ist der Untergrund, der diese Formen, Faltungen und Knicke,
Ausbrüche und Vorsprünge, Schichten und Flächen auffängt
und trägt.
In ihrer Strenge, vor allem aber im Aufbau der einzelnen Formen erinnern
diese Arbeiten an wissenschaftliche Zeichnungen. In einer gewissermassen
‹sachlichen Manier› gezeichnet, evozieren sie Abstraktionsprozesse
und ästhetische Entscheidungen, die hinter der visuellen Vermittlung
theoretischer Fakten stehen. Man meint geologische Faltungen, kristalline
Strukturen, kartografische Ausschnitte zu sehen, fühlt sich an Illustrationen
wissenschaftlicher Traktate erinnert. Andreas Martis Zeichnungen sind
formal sehr reduziert, ja schon fast karg. Es ist diese Reduktion der
zeichnerischen Mittel, welche die konzeptionelle Seite der Arbeiten durchscheinen
lässt, welche zugleich eine Vielzahl an Assoziationen in den Strukturen
und Formen wachruft.
Die Linienzeichnungen, Indistinct path, an denen Andreas Marti seit einigen
Jahren arbeitet, können im Vergleich zu den grossen Arbeiten gleichsam
als ‹Studien› oder ‹gezeichnete Lösungsansätze›
betrachtet werden. Die feinen durchgezogenen und gestrichelten Linien
sind von Hand, ohne Raster, Schablone oder technische Hilfsmittel frei
auf das Papier gesetzt. Sie begrenzen Flächen, verlaufen entlang
von perspektivischen Achsen, bilden Räume aus. Die dabei entstehenden
Architekturen scheinen transparent und seltsam körperlos, entziehen
sich einer logischen, räumlichen Lesbarkeit. Bei näherem Hinsehen
unterwandern die Zeichnungen den Anschein von kühler, unpersönlicher
Perfektion: Der Strich, ausgezogen oder in kurzen Strichen rhythmisiert,
verweist zwar auf technische Zeichnungen, Konstruktionspläne und
Axometrien, entwickelt aber bei genauer Betrachtung viel Eigenleben und
Individualität.
Einen weiteren Aspekt in der Auseinandersetzung mit Räumlichkeit
zeigt das jüngst entstandene Fotogramm Starburst von Andreas Marti.
In der Dunkelkammer streut er bunte, geschmolzene Glasstückchen auf
Farbfotopapier, das er dann belichtet. Durch den optischen Prozess werden
bei den Glasstückchen bestimmte Farbanteile ‹gefiltert›
und sind auf dem Fotogramm nicht sichtbar. Auf dem tiefschwarzen Untergrund
kommen so einzelne Farbpunkte zu liegen, sie blitzen gleichsam aus dem
dunkeln Bildraum auf. Die herstellungsbedingte räumliche Orientierung
des Fotogramms – die Glasstücke liegen direkt auf dem Fotopapier
– ist in dem durch Belichtung und Entwicklung entstandenen Bild
kaum mehr spürbar, ebenso sind die Grössenverhältnisse
verwischt. Die senkrechte Belichtungsposition bringt die Körperlichkeit
der Glasstücke zum Verschwinden, einige helle Kreise um die Lichtpunkte
herum zeugen von ihrer dreidimensionalen Gestalt sowie von der Lichtdurchlässigkeit
ihrer Materie. So kippt die Orientierung im dunklen Bildraum gleichsam
abschnittsweise, während man an bestimmten Stellen in eine dunkle
Tiefe zu blicken meint, evozieren andere Partien des grossformatigen Bildes
den Blick in die Höhe. Man wird sprichwörtlich im Dunklen gelassen,
über das, was das Fotogramm ‹wiedergibt›, über dessen
Ausdehnung und Position im Kontext unserer Wahrnehmungsmuster und Sehgewohnheiten.
Die Bodenarbeit Leck spielt ebenfalls mit visuellen Täuschungen.
Zuerst als Pfütze oder nasser Fleck auf dem Boden wahrnehmbar, entpuppt
sich die glänzende Stelle, die glatte, spiegelnde Struktur als zugeschnittene,
durchsichtige PVC-Folie. Beiläufig auf den Boden gelegt irritiert
die Arbeit einerseits durch ihre unprätentiöse Machart, andererseits
durch das optische Verwirrspiel. Andreas Marti gelingt mit dieser Arbeit
ein kleines Meisterstück an Reduktion und Irritation, an Spielfreude
und Ironie, das freilich auch seine kunstimmanenten Bezüge nicht
verleugnet.
Irene Müller Februar 2007
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Landpartie no. 16: Andreas Marti, left
over
Die Kunst der Reduktion
Text Irene Müller |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
«Denn nun machte ich mich daran, ‹Das Mitgebrachte›
aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an
mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte ‹Das
Mitgebrachte› herausgeholt, aber ‹Die Tasche›, in der
es gelegen hatte, war nicht mehr da.» (Walter Benjamin, Berliner
Kindheit um neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Frankfurt a. M. 1992,
S. 58)
Im Laufe des letzen Jahres hat Andreas Marti mehrere grossformatige Zeichnungen
entwickelt, die entweder direkt auf die Wand oder auf grosse Papierbahnen
gezeichnet sind. Es handelt sich dabei um Schablonenzeichnungen, die mit
Kugelschreiber ausgeführt werden. Kantige Strukturen, perspektivisch
gebrochene und ineinander verschachtelte Elemente entfalten sich in fein
abgestuften Schattierungen auf dem Weiss des Untergrundes. Eine zweite
‹Bildebene› bricht diese Formen auf, ein strenger, geometrischer
Raster schiebt sich dazwischen, wobei sich dessen Position im Bildraum
immer wieder ändert: An manchen Stellen hinterlegt dieses Netz aus
Quadraten die Anordnung, in anderen Bereichen überzieht es wie eine
feine Matrix die vielseitigen Formen. In dem Spannungsfeld von eher ungeordneten,
freien Strukturen und reglementierendem ‹Ordnungssystem› entwickelt
sich die Räumlichkeit der Zeichnungen. Vereinzelte Setzungen, aber
auch kompakte Partien markieren ein dreidimensionales Gefüge, das
die ‹Leerstellen›, die ‹unbezeichneten› Bereiche
einschliesst, aus ihnen herauswächst und mitformt.
Andreas Marti nimmt in diesen Zeichnungen jegliche Spuren einer persönlichen
Handschrift zurück. Gerade diese Art des Zeichnens, die differenzierten
Kreuz- und Parallelschraffuren, die feinen Helldunkel-Töne der Strukturen
und quadratischen Flächen heben den räumlichen Aspekt der Zeichnungen,
ihren tektonischen Aufbau und die körperhaften Ausprägungen
der Elemente und Formen hervor. Was wie minutiöse und präzise
Zeichenarbeit aussieht, ist viel mehr eine rasche, rhythmische Bewegung
mit dem Zeichenstift, die über die Grenzen der Schablonen hinausgeht.
Die Spur des Stifts auf dem Untergrund wird hingegen von der Form der
Schablone limitiert. So sind es die vorher definierten Umrissformen und
Liniensegmente, die in verschiedenen Positionen, Drehungen und Überlagerungen
auf dem Bildgrund die Grundorganisation der Zeichnung vorgeben; es sind
die unterschiedlichen Texturen dieser ‹Binnenformen›, die
einen Bildraum entwerfen, die der Bildanlage Räumlichkeit und dreidimensionale
Ausprägung verleihen. left over operiert direkt mit den örtlichen
Gegebenheiten, die Zeichnung setzt an bestimmten Stellen der Wand an und
thematisiert – wie im Titel angedeutet – das Übriggebliebene.
Sie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen besetztem, bezeichnetem Areal
und nackter Fläche. Vertikal ausgerichtete Strukturen ballen sich
in der rechten Raumecke, während einzelne ‹versprengte›
Setzungen das räumliche Gefüge ausweiten. Die Zeichnung strahlt
aus, bricht immer wieder die homogene Glätte der Wände auf.
Die dichten Kugelschreiber-Markierungen scheinen aus dem Weiss herauszuragen
und gleichzeitig darin hineingegraben zu sein.
In ihrer Strenge, vor allem aber im Aufbau der einzelnen Formen erinnern
diese Arbeiten an wissenschaftliche Zeichnungen. In einer gewissermassen
‹sachlichen Manier› gezeichnet, evozieren sie Abstraktionsprozesse
und ästhetische Entscheidungen, die hinter der visuellen Vermittlung
theoretischer Fakten stehen. Man meint geologische Faltungen, kristalline
Strukturen, kartografische Ausschnitte zu sehen, fühlt sich an Illustrationen
wissenschaftlicher Traktate erinnert. Andreas Martis Zeichnungen sind
formal sehr reduziert, ja schon fast karg. Es ist diese Reduktion der
zeichnerischen Mittel, welche die konzeptionelle Seite der Arbeiten durchscheinen
lässt, welche zugleich eine Vielzahl an Assoziationen in den Strukturen
und Formen wachruft.
Irene Müller
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Publikation `Loch statt Linse`, Kunsthaus Langenthal
Text Marianne Burki, Eva Inversini und Markus
Schürpf |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Top |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|